Zwei Herzen schlagen in Hamburg-Mitte, im wahrscheinlich buntesten Viertel der Stadt: In der hippen Langen Reihe haben sich die Trendsetter und Kreativen in schicken Altbauten angesiedelt, während auf dem Steindamm ein Potpourri aus Exotik und Bahnhofs-Atmosphäre brodelt. Zwei Straßen, die unterschiedlicher kaum sein können, und nur wenige Meter voneinander entfernt liegen – die OXMOX-Redaktion mittendrin. Diese Gegensätzlichkeit von alt und modern, hip und heruntergekommen, weltoffen und zurückgezogen macht den Stadtteil aus. Ansichten über die Gegenwart und Zukunft des Viertels …
„Diesen Charme gibt es nur hier“
1931 von Gotthard Policke gegründet, hat Hamburgs Nummer eins für Herrenkleidung seit dem ihren Sitz in St. Georg. In dem historischen Kaufhaus erwarten die Kunden rund 10.000 Anzüge sowie Verkäufer mit einem herausragenden Augenmaß. Mit weiteren Läden für Hemden, junge Mode und Co. bleibt Policke dem Stadtteil – und besonders der Böckmannstraße – treu. „Unsere Kunden verbinden Policke mit St. Georg“, erklärt Verkäufer Stefan Brandes (39). „Das Gebäude und die Umgebung haben Tradition – bei uns kaufen Opa und Enkel.“ Besonders im Frühjahr, wenn zur Konfirmations-Saison die Kundenschlange bis auf die Straße reicht. „St. Georg hat einen einzigartigen kulturellen Mix, hier trifft man auf Menschen aus allen Schichten. Wir sind schon gespannt auf das neue Gebäude an der Ecke zur Adenauerallee – das wird bestimmt eine Bereicherung für´s Viertel!“
„Hier passt man noch aufeinander auf“
Ohne Leckerli kommt hier kein Vierbeiner raus: Der „auffellige“ Laden an der Ecke Schmilinskystraße ist ein Mekka für Hunde und Herrchen! Verkäuferin Sandra (48) und ihre Kollegen sind bekannt für beste Beratung und ein umfangreiches, besonders hochwertiges Produktsortiment – von einer eigenen Futterlinie bis zu wunderschönen Accessoires. Die Pet Shop Boyz haben ihr Revier seit Jahren in St. Georg: „Die Nachbarschaft ist wahnsinnig nett, hilfsbereit und entspannt. In einer herrlichen Atmosphäre zwischen Altstadtflair und Außenalster“, schwärmt Sandra. „Toll finde ich auch, dass es hier noch so viele inhabergeführte Läden und verhältnismäßig wenig Ketten gibt – von den ganzen Backshops mal abgesehen.“ Kulinarisch lässt St. Georg ansonsten keine Wünsche offen – das finden auch die Vierbeiner!
„Gekommen, um zu bleiben“
„Ohne St. Georg wäre ich wohl schon längst wieder aus Deutschland weg“, schmunzelt Antonio Filippone (61), Inhaber des ebenso beliebten wie alteingesessenen italienischen Restaurants La Famiglia. Die Tatsache, dass “la mamma” hier seit 1974 höchstpersönlich am Herd steht, dürfte für sich sprechen. Der familiengeführte Betrieb ist der zweitälteste Italiener Hamburgs, und das hat einen Grund: In St. Georg fühlen sich die Filippones einfach wohl. „Wir lieben das multikulturelle Publikum. In unserem Restaurant treffen Stammgäste aus der Stadt und dem Viertel auf Touristen. Diese bunte Vielfalt gibt es in Hamburg nur hier – unser Betrieb wird St. Georg für immer treu bleiben.“ Zahlreiche Gäste, die sich hier mittags und abends die kalabrische Küche schmecken lassen, sind eines der besten Zeugnisse für die Gastfreundlichkeit des Viertels!
„Mittendrin im Multikulti“
„An fast jedem Freitag trifft sich die muslimische Gemeinde bei uns zum Tee“, erklärt Tresenkraft Florian (27), während er duftenden Kaffee einschenkt. Dieser ist in der Kaffeewelt – wie auch die meisten anderen Produkte (u. a. Suppen, Salate, Gebäck) – stets frisch und hausgemacht. Offen und unkompliziert geht es in dem von den Guttemplern geführten Betrieb zu. Ein aktiver Verein der Selbsthilfe, mit vielen Angeboten für ein alkohol- und drogenfreies Leben. Das Stadtteil-Café im Georg-Asmussen-Haus erfreut sich der Beliebtheit bei Stammkunden und Hamburg-Touristen. „Ein Vorteil von St. Georg ist ganz klar die zentrale Lage“, erklärt Florian. „Außerdem die Vielfalt der Geschäfte – hier kann man sich seinen Friseur nach der Landessprache aussuchen!“
„Leben in zwei Welten“
Mehrsprachige Leuchtschilder, Flyer, Fensterbeschriftungen und Hochzeitskarten sind seit rund zehn Jahren das Steckenpferd des in St. Georg angesiedelten Copy-Shops. Besonders letztere bescheren Inhaber Taşkın Irmak (55) ein gut laufendes Geschäft: „Zu türkischen Hochzeiten werden nicht selten zwischen 1.000-1.200 Gäste eingeladen“, lacht der in Istanbul aufgewachsene Geschäftsführer. Die Liebe zu beiden Kulturen vereint er im Firmenlogo, das Elemente aus seiner alten und der aktuellen Heimatstadt zeigt. Das multikulturelle Flair St. Georgs lässt Taşkın sich wie zu Hause fühlen. „Die vielen unterschiedlichen Menschen, Religionen und Mentalitäten erweitern den eigenen Horizont, das mag ich! Was mir an St. Georg persönlich nicht so gut gefällt ist, dass es hier inzwischen zuviel Gastronomie gibt. Genauso wie der Steindamm und die Lange Reihe sich unterscheiden, ändert sich das Stadtbild hier auch bei Tag und Nacht.“
„Großstadt-Feeling am Hansaplatz“
Im Lagerhaus auf der Langen Reihe treffen wir Buchautor Jörg (24, „Jugendliche Philosophie zum Mitmachen und Weiterdenken“), der nach Aufenthalten in Paris und Köln seit vier Jahren in St. Georg zu Hause ist: „Mir gefällt das Großstadt-Feeling. Besonders am Hansaplatz. Der Mix der Menschen ist toll. Hier ist alles sehr entspannt. Zum Ausgehen muss man aber nach St. Pauli fahren, weil es hier keine richtigen Clubs gibt.“
„Mainstream gibt’s hier nicht“
Die stylische Boutique Duke & Lyle (Lange Reihe 50) bringt seit 21 Jahren Glamour in den Stadtteil. Coole Atmosphäre, limitierte Accessoires mit Glitzer, Totenköpfen, hochwertige Schmuckstücke, ein ausgewähltes Kleidungssortiment, viele Unikate … Geschäftsführer Carsten (45): „Wir statten Künstler wie Lindenberg und Maffay seit Jahren aus.“ Immer am Puls der Zeit, nimmt der Trendsetter St. Georg genauer unter die Lupe: „Früher war der Stadtteil viel härter: Nutten und Koks. Inzwischen ist St. Georg zum Leben erblüht. Ein tolles, wachsendes Viertel.“ Wohnen möchte Carsten hier allerdings nicht: „Wir erwarten ein Kind, da ist ein ruhigerer Stadtteil schöner. Auch wenn die Schulen hier angeblich besser geworden sind.“ Auch über anstehende Veränderungen ist er bestens informiert: „Bald kommen ja noch 3.-4.000 Leute mehr durch den neuen Alster Campus. Da wird sich viel ändern. Die Mieten sind jetzt schon sehr hoch – das kann man sonst nur noch mit Gastro-Profiten bezahlen. Oder mit Drogen und Porno, wie am Steindamm. (lacht) Gastronomie gibt es hier zu viel. Bei der Tchibo-Baustelle soll ja noch ein Vapiano entstehen. Es fehlt der normale Einzelhandel für den täglichen Bedarf.“
„Futtern wie bei Muttern“
Im rustikalen, gut besuchten Lokal Frau Möller (Lange Reihe 96) gibt`s große Portionen zu kleinen Preisen. Besonders die Bratkartoffeln schmecken wie bei Muttern. Felix arbeitet seit 1,5 Jahren hier: „Den Laden macht besonders, dass hier nette Leute sind. Normale Leute. Nicht so superficial. Nicht so nervig“, so der 24-jährige Psychologie-Student. „Ich war nach dem Abi zwei Jahre lang in Australien und hab da viele Leute getroffen, die so basic entspannt sind. Hier ist`s auch so. St. Georg ist ein sehr schöner Stadtteil für mich, weil er alles hat. Ich bin ja auch so´n kleiner Gangster (lacht) und war früher immer auf dem Steindamm unterwegs. Jetzt zieht`s mich eher auf die Lange Reihe. Hier gibt`s ja auch so einen schwulen Einfluss, der total nett ist.“
„Pressefreiheit gibt`s hier nicht“
Im türkischen Restaurant/Café Bak-Lava (Steindamm 62) herrscht leider eine ganz andere Stimmung: „Ich verklage euch sofort, wenn ihr auch nur ein einziges Wort über meinen Laden schreibt“, schnauzt „Chef“ Mehmet.
„1/4 Jahrhundert Frühstücksgenuss“
Herzlich geht`s im Frühstückslokal Café Uhrlaub (Lange Reihe 63) zu, wo uns die bezaubernde Manuela (48) begrüßt: „Ich arbeite seit 22 Jahren hier.“ Das Besondere am Café Uhrlaub sind die selbstgemachten Torten und die zwölf unterschiedlichen Frühstücke (4-11,90 €), die man hier ab 8 Uhr in familiärer Atmosphäre genießen kann. Manuela: „Café Uhrlaub ist schon seit rund 25 Jahren auf der Langen Reihe. Was St. Georg so besonders macht sind die Menschen, die hier wohnen und arbeiten.“
„Ein Standort als Herausforderung“
Seit 2003 betreiben Gunther Schmidt und Lisa Politt das Theater Polittbüro (Steindamm 45), das Teil des internationalen Flairs im Viertel ist. Gunther: „Wenn ich auf den Steindamm trete, kommt es mir vor wie eine Stippvisite in der ganzen Welt – inklusive aller offen zutage tretenden Konflikte. Das lässt sich nicht romantisieren, wie die „Prostitution mit Herz“ auf dem Kiez. Das Gegenteil einer Reihenhaussiedlung: Frauen im Niqab neben katholischen Nonnen und Huren, millionenschwere Sportflitzer hinter rostigen Transportern, bunte Trachten zwischen grauen Geschäftsanzügen oder schwarzem Leder.“ Gunther und Lisa nehmen den Standort als Herausforderung an: „Man kann nicht ganze Stadtviertel ausgrenzen. Auseinandersetzung ist gefragt, das versuchen wir mit unserer Programmauswahl. Man kann das Polittbüro gar nicht besuchen, ohne den starken Eindruck des Viertels mitzunehmen. So geht es unserem Publikum, aber auch unseren Künstlern, die immer wieder gerne hierher kommen.“ Wie ab Mitte Dezember zum Festival „Die Besten zum Fest“ mit Rainald Grebe, Stefan Gwildis, Jochen Malmsheimer, Moritz Neumeier, Thomas Pigor, Sebastian Pufpaff, Nico Semsrott, Martin Sonneborn, Thorsten Sträter, Rainer Trampert & Thomas Ebermann u. a.. Gunther: „Achja, was mir hier nicht gefällt: Die Parkplatzsituation und die Knöllchenverteiler … äh, Entschuldigung: Die Angestellten der Firma, die den Zuschlag der Stadt für die Parkplatzbewirtschaftung erhalten hat.“
„Ich liebe alle St. Georgianer“
Valérie Bayol (48) besitzt seit drei Jahren ihr märchenhaftes Atelier Figurart (Danziger Str. 40) direkt in der Mitte zwischen Steindamm und Langer Reihe. Alle Puppen sind mit viel Liebe von Valérie persönlich angefertigt, Workshops für die Kleinen zum selberbauen bietet sie ebenfalls an. „Ich möchte hier aus der Gegend gar nicht mehr weg. Wir sind ein sehr buntes Viertel mit den unterschiedlichsten Menschen und Ansichten. Ich liebe alle St. Georgianer, egal ob hetero oder schwul, reich oder obdachlos, Christen, Muslime oder Atheisten.“ Valérie erzählt, dass sie keine Angst vor der Gegend hat, und dass ihr bis jetzt noch nichts Schlechtes widerfahren ist. Das einzig Traurige, so findet sie, ist dass es viele Obdachlose im Viertel gibt.
„Menschen in St. Georg sind die coolsten“
Das englischsprachige Kino Savoy hat seit 1953 seinen Platz auf dem Steindamm Nr. 54. „Menschen in St. Georg sind die hipsten und coolsten, die man finden kann“, sagt Natascha (25), die seit drei Jahren im Savoy arbeitet. „Ich finde schön, dass es hier so multikulturell ist. Da wir ein englischsprachiges Kino sind, sind unsere Besucher ein ebenso buntes Publikum.“
„Es gibt immer etwas Neues zu entdecken“
Simone arbeitet seit 2013 im Hansa Varieté Theater (Steindamm 17), dem ältesten Varieté Deutschlands. Größen wie Siegfried & Roy traten dort auf, und Hans Albers begann hier seine Karriere. „Was mir an St. Georg so sehr gefällt, ist die Vielfalt und Lebendigkeit! Es gibt immer etwas Neues zu entdecken …“ So wie vor Kurzem, als Simone das Restaurant Le Su in der Langen Reihe aufgefallen ist: „Sehr empfehlenswert!“
„Hier gibt es sehr viele Künstler“
Das Lagerhaus in der Langen Reihe 27 lockt mit einer Vielfalt aus Bistro, Mode und Wohn- Accessoires; sogar ein Friseur ist vorhanden. „Ich arbeite gern in der Langen Reihe, wegen der Wohlfühlatmosphäre“, erklärt Hatice (32, Make-Up Artistin im Beauty Specials). „Ich kann mir gar nicht vorstellen, woanders zu arbeiten. Hier gibt es sehr viele kreative Menschen, viele Künstler besuchen unseren Laden täglich.“ Was Hatice stört, ist der Steindamm. „Ich finde, dass dieser leider gar nicht mit der Langen Reihe zusammenpasst.“
„Es wird immer konservativer“
Wer sich nach dem Friseurbesuch noch ein Tattoo verpassen lassen möchte, kann gleich bleiben – bei „Himmel und Hölle“ (Lange Reihe 111) kümmern sich die kompetenten Mitarbeiter sowohl um die Haare als auch die Haut ihrer Kunden. „Die Kombination aus Friseur- und Tattoo-Stube macht unseren Laden in diesem Stadtteil einzigartig. Der Standort ist ideal, da sich in St. Georg die lockersten Leute tummeln – im Vergleich zu früher wird es hier allerdings immer konservativer“, erzählt Tätowierer Norman (41), der sich vor allem auf Schriftzüge und Realistik spezialisiert hat. Für einen freundlichen Empfang sorgt Bullterrier Finch.
„Ich schätze die Vielfalt“
Wer sich vom Steindamm aus auf den Weg in die Lange Reihe macht, kommt unter Umständen am St. Marien-Dom vorbei – dieser empfängt seit 1893 Anhänger der christlichen Religion. Passend dazu verkauft Geist†reich (Am Mariendom 5) u. a. religiöse Literatur, Tauf- und Hochzeitskerzen, Schmuck und Devotionalien. „Wir sind eines von zwei religiösen Fachgeschäften in Hamburg. Da wir unseren Laden direkt neben dem Dom haben, freuen wir uns über rege Kundschaft. An St. Georg schätze ich seine Vielfalt und Lebendigkeit – die Menschen könnten nicht unterschiedlicher sein“, freut sich Inhaber Stefan Schüddekopf (56).
„Einfach multikulti“
Das älteste Gebäude St. Georgs steht seit 1621 in der Langen Reihe 66 und beherbergt seit 62 Jahren das Hamburger Nähmaschinen-Haus. Neben einer großen Auswahl an Fabrikaten bietet das Geschäft regelmäßige Kreativnähkurse. „St. Georg ist einfach multikulti! Man muss hier aber klar zwischen dem Steindamm und der Langen Reihe unterscheiden – das sind zwei Welten. Die Lange Reihe ist deutlich interessanter, verkommt aber leider immer mehr zu einer Gastronomiemeile – ständig eröffnen neue Restaurants“, bedauert Verkäufer Rainer Köster. „Mir gefällt vor allem die Lage des Stadtteils. Man ist in der Nähe der Alster und nur einen Katzensprung von der Innenstadt entfernt.“, freut sich Inhaberin Gabriele Jaschinski (54).
„Hier vermischt sich Hamburg mit Tourismus“
Das Wonderland (Lange Reihe 29) bietet fast alles, was das Herz begehrt – ob Roller, Möbel, Accessoires, Kerzen oder Seife. Für Naschkatzen hält die hauseigene Bären Company mehr als 80 unterschiedliche Fruchtgummis bereit, die ausschließlich aus Naturmaterialien hergestellt werden. „In St. Georg vermischen sich die Ur-Hamburger mit Touristen – das gibt es so kaum irgendwo anders. Außerdem bietet der Stadtteil tolle Einkaufsmöglichkeiten sowie eine vielfältige Gastronomie“, erzählt Storemanager Jörg Brone (50).
„Wir freuen uns, dass wir hier sind“
Seit einem Jahr können sich Hamburger bei Oh My Juice in der Schmilinskystraße 30 täglich über u. a. ein leckeres Frühstück, gesunde Salate sowie frischgepresste Säfte freuen. Auf Letztere legt das Unternehmen besonders viel Wert: „Wir sind der erste Laden in St. Georg, der Säfte kalt, langsam und schonend presst – so gehen im Gegensatz zum herkömmlichen Verfahren kaum Nährstoffe und Vitamine verloren. Darüber hinaus verwenden wir ausschließlich regionale und saisonale Produkte“, erklärt Mitgründerin Merle (32). „In St. Georg begeistern mich die netten und interessanten Menschen. Wir freuen uns sehr, dass wir hier sind!“

OX 2016